Medizinische Aspekte

Epileptische Anfälle sind Zeichen für eine Funktionsstörung des Gehirns und können bei jedem Menschen jederzeit auftreten. Handelt es sich um eine vorübergehende Funktionsstörung (ausgelöst durch Fieber, Hirnhautentzündung, Alkoholentzug, etc.), sprechen wir von “Gelegenheitsanfällen”

Treten mehrere epileptische Anfälle ohne Auslöser auf, spricht man von einer Epilepsie. Man kann davon ausgehen, dass jeder cerebrale Krampfanfall das erneute Auftreten eines Anfalls bahnt. Dadurch werden die Abstände der Anfälle kürzer und die Anfälle können auch heftiger werden.

In der Regel zeigen Betroffene immer den gleichen Anfallsablauf, nur wenige weisen eine Vielzahl von Anfallsformen gleichzeitig auf. Daher ist der Begriff “Epilepsie” nur ein Oberbegriff, man sollte von Epilepsien sprechen, die in unterschiedliche Epilepsie-Syndrome eingeteilt werden. Die Einteilung ist wichtig für die Entscheidung über die Therapiemöglichkeit, den Umgang mit der Epilepsie im Alltag und die Prognose, d.h. den vermutlichen Verlauf der Erkrankung.

Häufigkeit von Epilepsien

Epilepsien gehören zu den häufigsten chronischen Erkrankungen des Kindesalters und gelten als die häufigste neurologische Erkrankung überhaupt. Bekanntere neurologische Diagnosen, wie z.B. Parkinson oder Multiple Sklerose sind viel seltener als Epilepsien. Zum Vergleich: Diabetes Typ 1 (nicht Typ2, der sog. Altersdiabetes)  tritt etwa genauso oft in der Bevölkerung auf wie Epilepsien.

 

Etwa 1% der Bevölkerung hat eine aktive Epilepsie, jeder zehnte Mensch erlebt bis zu seinem 80. Lebensjahr einmal einen epileptischen Anfall. Neuerkrankungen können in jedem Lebensalter auftreten, besonders häufig werden Epilepsien aber im Kindes- und Jugendalter und bei älteren Menschen diagnostiziert.

 

Bei 30 Kindern je Schulklasse sind es 3 Kinder, die einmal in ihrem Leben einen Anfall erleiden (das

gleiche gilt natürlich auch für das Lehrerkollegium).

 

Epilepsien sind eine sehr „demokratische“ Erkrankung, sie sind weder anhängig vom sozialen Status, noch vom Geschlecht, von der ethnischen Herkunft, vom Bildungsstand oder vom Alter. Es kann also jeden treffen, die Fans von Borussia Dortmund genauso wie die von Bayern München.

Prognose

Rund 70 % der Patienten werden durch Medikamente anfallsfrei. Nach mehrjähriger Anfallsfreiheit (mindestens 2-5 Jahre) kann bei Kindern, bei denen keine Ursache für die Epilepsie gefunden wurde, ein Absetzversuch (= Reduktion der Medikamente) unternommen werden.

Einteilung

Es gibt zwei Möglichkeiten, Epilepsien zu klassifizieren. Zum einen nach ihrer Ursache, zum anderen nach dem Erscheinungsbild der Anfälle. Die Nomenklatur der Einteilungen ist im Umbruch, daher geben wir hier sowohl die alten als auch die neuen Begriffe an.

 

Klassifikation nach Ursachen

  • Strukturell/Metabolisch (alt: symptomatisch): Die Ursache der Epilepsie ist bekannt, z. B. Hirnverletzung, Schlaganfall, Stoffwechselstörung, Infektionsfolgen.
  • Genetisch (alt: idiopathisch): Die Ursache der Epilepsie ist genetisch bedingt.
  • Unbekannt (alt: kryptogen): Es kann nach heutigem Wissen keine Ursache gefunden werden.

Klassifikation nach Anfallsformen

Anfälle haben viele verschiedene Erscheinungsformen, die heutzutage sehr differenziert eingeteilt werden können. Grob unterscheidet man nach der Ausbreitung der epileptischen Aktivität im Gehirn nach:

  • generalisiert (das ganze Gehirn ist betroffen)
  • fokal (die epileptische Aktivität ist nur in einem bestimmten Areal des Gehirns, dem Fokus, zu beobachten)

Generalisierte Anfälle

Mit motorischen Symptomen:
z. B. Generalisierter tonisch-klonischer Anfall (Grand mal-Anfall)

Diese Anfallsform verläuft in mehreren Phasen, die auch teilweise übersprungen werden können.

  • Aura: Manche Kinder verspüren ein (meist unbestimmtes) Vorgefühl von unterschiedlicher Dauer.
  • Tonische Phase: Sämtliche Muskeln versteifen sich gleichzeitig. Das Kind ist bewusstlos. Da beim Sturz die Abwehrreaktionen fehlen, kann es zu schweren Verletzungen kommen. Dauer: Sekundenbruchteile bis Sekunden.
  • Atonische Phase: Statt der Tonuserhöhung (= Erhöhung der Muskelspannung) kann es auch zum Tonusverlust kommen, d. h. das Kind wird schlaff, bewusstlos, fällt hin und atmet nicht wahrnehmbar.
  • Klonische Phase: Es kommt zu rhythmischen Zuckungen (Kloni) an allen Gliedmaßen. Auch die Zunge kann beteiligt sein, wodurch Schaum (Speichel) vor den Mund treten kann. Da die Atemmuskulatur nicht ausreichend einsetzt, kann Blaufärbung von Lippen und Gesicht auftreten. Dauer: Sekunden bis ca. 3 Minuten. Der einzelne Anfall hört in der Regel ohne äußeres Zutun von selbst wieder auf.
  • Erholungsphase: Die meisten Kinder schlafen nach dem Anfall, manche einige Minuten, andere ein paar Stunden.

Ohne motorische Symptome
z. B. Absence:

Kurze Bewusstseinspause, bei der das Kind in seiner Handlung verharrt, einen starren Blick bekommt, eventuell nach oben schaut, mit den Augen blinzelt oder mit den Lidern zuckt. Dauer: gewöhnlich nur ein paar Sekunden (= „Hans Guck-in-die-Luft“). Der Anfall beginnt plötzlich und endet ganz abrupt. Diese Anfälle können sehr häufig am Tag in Serien auftreten, manchmal hundertmal oder mehr. Die Kinder haben für die Dauer des Anfalls kein Bewusstsein, können jedoch automatische Dinge weiter ausführen (z. B. Radfahren, Laufen). Sie fallen dabei nicht hin.

 

Fokale (Herd- oder partielle) Anfälle

Fokale Anfälle können sowohl bei komplett erhaltenem Bewusstsein auftreten (einfach fokal), aber auch mit eingeschränktem Bewusstsein (komplex-fokal). Zusätzlich unterscheidet man, ob sich der Anfall durch motorische Symptome (z. B. Bewegungen, Zuckungen) manifestiert oder durch nicht motorische Symptome (Kribbeln in der Hand, Blass-werden o. ä.).

 

Bewusst erlebter Anfall (alt: einfach-fokal):

Eine bestimmte Stelle/Region (= Fokus) im Gehirn ist in ihrer Funktion gestört. Das Kind spürt z. B. ein Zucken der Hand, des Mundes oder (von außen nicht sichtbar) ein komisches Gefühl oder ein Kribbeln – je nachdem, welche Region des Gehirns von der epileptischen Aktivität betroffen ist. Es erlebt den Anfall bei vollem Bewusstsein, kann aber z. B. das Zucken nicht unterdrücken.

 

Nicht bewusst erlebter Anfall (alt: komplex-fokal):

Stellen im Gehirn, die das Bewusstsein beeinflussen, sind in ihrer Funktion gestört. Während des Anfalls ist das Bewusstsein mehr oder weniger eingeschränkt und das Kind reagiert nur bedingt sinnvoll auf Ansprache. Dabei können nicht nur Nesteln und Schmatzen, sondern auch komplexe Handlungsabläufe auftreten, z. B. packt ein Kind ohne ersichtlichen Grund seine Büchertasche ein oder schiebt einen Stuhl durch das Klassenzimmer.

 

Diese Anfälle beginnen und enden langsam - es dauert einige Zeit, bis das Kind wieder ansprechbar ist.

 

Fokale Anfälle können auch in einen Grand mal-Anfall übergehen, man spricht dann von einer sekundären Generalisierung.

Diagnose

Anamnese

Die wichtigste Grundlage der Diagnose ist die Krankengeschichte des Patienten, insbesondere die Schilderung des Anfalls. Allein durch die sorgfältige Anamnese kann in den meisten Fällen die Art der Anfälle klassifiziert und die Zuordnung zu einem bestimmten Epilepsiesyndrom getroffen werden. Hilfreich dafür ist ein Anfallsbeobachtungsbogen - ein gutes Beispiel finden Sie hier. Durch weitere Diagnostik (standardmäßig EEG und MRT, evtl. Tests auf bestimmte Stoffwechselstörungen oder Gendefekte, in Ausnahmefällen auch spezielle Untersuchungen des Gehirns wie z. B. PET/SPECT) wird die erste Verdachtsdiagnose bestätigt oder korrigiert.

 

Hirnstromuntersuchung (EEG = Elektroenzephalogramm)

Mit Hilfe des EEG können die Gehirnströme des Patienten als Kurven, ähnlich wie beim EKG, aufgezeichnet werden (meist mit parallel laufender Video-Aufzeichnung). Das Aussehen dieser Kurven (Höhe und Form sowie Frequenz des Ausschlags) ist abhängig vom Alter und der Wachheit des Betroffenen. Bei bestimmten Epilepsieformen findet man ganz charakteristische Muster im EEG. Dabei werden auch Provokationsverfahren wie z. B. Hyperventilation oder Lichtblitze eingesetzt. Manchmal ist auch das EEG im Schlaf bzw. beim Einschlafen für den Arzt sehr aufschlussreich oder aber eine Aufzeichnung über 24 Stunden und länger notwendig.
Bilderbuch zur Vorbereitung des Kindes auf all diese Untersuchung: Toto und das EEG

 

Kernspintomografie (MRT = Magnetresonanztomografie)

Die Kernspintomografie ermöglicht es, die Struktur des Gehirns darzustellen. Hierbei können Fehlbildungen, Reifungsstörungen, Verletzungen und Tumore festgestellt werden, die Ursache für symptomatische Epilepsien sein können.
Bilderbuch zur Vorbereitung des Kindes auf diese Untersuchung: Toto geht in die Röhre

 

Weitere Untersuchungen

Stoffwechseluntersuchungen, genetische Bestimmungen oder andere spezielle Tests können im Einzelfall hilfreich sein, um die Ursache der Anfälle festzustellen oder das Behandlungskonzept abzusichern.

Therapie

Die Therapie der Epilepsien erfolgt zunächst fast immer medikamentös. Ausgehend von der genauen Kenntnis der Anfallsform wählt der Arzt ein entsprechendes Medikament (Antiepileptikum/Antikonvulsivum) aus, das dann langsam, in immer höheren Dosen, verabreicht wird, entweder bis Anfallsfreiheit erreicht ist oder die Nebenwirkungen nicht mehr akzeptiert werden können.

Bei schwierig zu behandelnden Epilepsien oder hoher, belastender Anfallsfrequenz kann das Ziel der Behandlung auch eine Reduktion der Anfallshäufigkeit oder der Schwere der Anfälle sein. Das Behandlungsziel ist von Fall zu Fall unterschiedlich und sollte regelmäßig im Gespräch mit Arzt, betroffenem Kind/Jugendlichen und Eltern überprüft werden.

In einigen Fällen kommt bei fokalen Epilepsien auch eine Operation in Frage. Voraussetzung hierfür ist, dass die Epilepsie von einer Stelle im Gehirn, dem so genannten Herd, ausgeht, der keine lebenswichtigen Funktionen steuert, und dass die Behandlung durch Medikamente vorher gescheitert ist. Eine Operation bringt immer ein Risiko mit sich und wird, wie die Diagnostik für eine solche OP, nur in einem Epilepsie-Zentrum durchgeführt. Bei bestimmten Stoffwechselstörungen kann auch eine spezielle Diät, z. B. die ketogene Therapie mit einem sehr hohen Fettanteil, Erfolg versprechen.

Wichtig sind auf jeden Fall ein geordneter Tagesablauf mit geregeltem Nachtschlaf und die regelmäßige, pünktliche Einnahme der Medikamente.

Das Kind sollte in festen Abständen einem Epileptologen vorgestellt werden, der die Therapie begleitet.

Nebenwirkungen

Bei Antikonvulsiva/Antiepileptika handelt es sich um wirksame Medikamente, die in die Informationsweitergabe der Nervenzellen eingreifen. Natürlich können diese Arzneimittel auch Nebenwirkungen verursachen. Sind die Nebenwirkungen abhängig von der Dosis des Medikaments, treten sie im gleichen Abstand zur Tabletteneinnahme auf, nämlich zum Zeitpunkt der höchsten Konzentration des Wirkstoffs im Blut.

Müdigkeit, Konzentrationsprobleme oder Verlangsamung können aber auch durch die Erkrankung selbst verursacht werden. So kann es bei falscher Medikamenteneinnahme (oder fehlender Therapie) zu einem Dämmerzustand kommen, der einer Trance gleicht und einen anhaltenden Anfall ohne Muskelkrämpfe darstellt. Auch gibt es spezielle, seltene Epilepsiesyndrome (z. B. Lennox-Gastaut-Syndrom), die mit einem geistigen Abbau einhergehen, der unabhängig von der Medikation und den Anfällen eintritt. Änderungen der Dosierung und medikamentöse Umstellungen sollten immer mit dem behandelnden Epileptologen abgestimmt werden. Treten Nebenwirkungen auf, so muss individuell entschieden werden, inwieweit sie als Beeinträchtigung, z. B. bei Anfallsfreiheit, zu tolerieren sind. Denn durch die Reduktion der Dosis eines Medikaments können erneut Anfälle auftreten, die manchmal auch bei erneuter Steigerung der Dosis nicht wieder kontrollierbar sind.

Therapiefindung

Die Phase der Therapiefindung kann eine deutliche Belastung für das Kind und die Familie darstellen. Gerade bei komplizierten Epilepsien, bei denen nicht sofort Anfallsfreiheit erreicht wird, werden alle Beteiligten auf eine große Geduldsprobe gestellt. Hoffnung auf das neue Medikament ist oft gepaart mit Furcht vor Versagen und Nebenwirkungen.